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Nr. 75, Leben im Director’s Cut –
Neues von Joni Mitchell

Report - Rolling Stone, erschienen Februar 2015

In einem ihrer schönsten Lieder, „Both Sides, Now“, singt JONI MITCHELL: „I really don’t know love at all“ – doch nun hat die große Songschreiberin eine Sammlung ihrer Liebeslieder zusammengestellt und spricht in einem ihrer seltenen Interviews mit dem deutschen ROLLING STONE über Lieder, Leben – und Ballett

Das Universum der Joni Mitchell hat viele Eingänge. Am Haupteingang stehen die Fans der ersten Stunde, die sie zwischen ihrem Debüt 1968 und ihrem Meisterwerk „Blue“ von 1971 entdeckten. Den Nebeneingang nahm, wer Joni später über einen Hinweis in einer Musikerbiografie, über ein zufällig empfohlenes Video auf YouTube, in einem Konzertmitschnitt im Spätprogramm entdeckte. Und dann gibt es noch die, die Joni Mitchell 2003 nach „Tatsächlich … Liebe“ googelten. Eines haben alle gemeinsam: Sie sahen die junge Joni und gerieten in ihren Bann...

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Musik
Popkultur
Joni Mitchell
Rock’n’Roll
USA

 


Nr. 59, Ein Simulant macht Karriere –
Simulationspatienten in der Lehre

Reportage - Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 30. Juni 2013

Herr Walter tut so, als sei er krank. Er hilft damit jungen Medizinern ihre Menschenkenntnis und Patientenkommunikation zu verbessern. Nun wird seine Kunst auch von Pharmafirmen entdeck

Das Vermeiden beherrscht Albrecht Walter wie kein Zweiter. Nachdem er der jungen Ärztin ausgiebig die Hand geschüttelt hat, klopft er sich alle Taschen ab, bevor er beginnt, umständlich seinen Rucksack auszupacken. Wo ist nur das Büchlein, in dem die ordnungsgemäße Einnahme des Gerinnungshemmers Macumar protokolliert sein sollte? Es klappt. Die Frau fängt an, mit dem Fuß zu wippen. So wird er leicht mit ihr fertig. Obwohl er ihr ja eigentlich helfen will. Albrecht Walter ist Simulationspatient an der Berliner Charité und heißt in seiner Rolle heute Simon Röller. Er wird eingesetzt, damit angehenden Ärzte trainieren, mit den ärgsten Macken ihrer zukünftigen Patienten richtig umzugehen. Beobachtet vom Dozenten und einem Dutzend Kommilitonen, muss die Jungmedizinerin herausfinden, warum sich die Gerinnungswerte des Patienten trotz des Medikaments in immer gefährlichere Bereiche verschieben. Dabei weiß sie, dass sie hier keinen richtigen Kranken vor sich hat. Doch sein Geheimnis kennt sie nicht, weiß nicht, dass Walters "Simon Röller" ein funktionaler Analphabet ist: Er nimmt die Tabletten falsch ein, weil er die Einnahmeregeln in dem Büchlein gar nicht lesen kann, das aber verheimlicht. Schließlich hat die Studentin eine Eingebung. Beiläufig bietet sie ihm an, die Einnahmetage mit verschiedenen Farben zu markieren, damit er auf den ersten Blick erkennt, wann er wie viele Tabletten einnehmen muss. Am Ende der Konsultation ist der Berliner weich wie ein Schäfchen. "Dankeschön, Frau Dokter", strahlt er und verlässt den Raum beinahe beschwingt. Die Kommilitonen murmeln anerkennend.

Seit gut dreizehn Jahren wird an der Berliner Charité mit Simulationspatienten gearbeitet. Es sind Menschen jeden Alters, die bei gespielten Arztbesuchen einen Kranken mit den entsprechenden Symptomen darstellen. Das Konzept stammt aus der Neurologie und wurde in den 1970er Jahren in den Vereinigten Staaten entwickelt. "Ärzte müssen in Konsultationen in sehr kurzer Zeit sehr viel von einem Patienten abfragen", sagt Henrike Hölzer. Sie leitet das Simulationspatientenprogramm an der Charité seit sieben Jahren und ist eine Pionierin auf diesem Gebiet. "Ein Patient, der die Medikamente, die er bekommt, ins Klo wirft oder zu drei bis vier Ärzten geht, weil er sich bei keinem richtig wahrgenommen fühlt, verursacht hohe Kosten", sagt sie. Die Bertelsmann-Stiftung bezifferte 2011 den so entstehenden Schaden auf jährlich über eine Milliarde Euro. Bis zur Einführung des Reformstudiengangs Medizin im Wintersemester 1999 war Kommunikation mit den Patienten im Curriculum eines Medizinstudenten überhaupt nicht vorgesehen.

Wenige Minuten, nachdem die Studentin "Simon Röller" auf die Schliche gekommen ist, betritt der Berliner den Seminarraum erneut. "Guten Tag, mein Name ist Albrecht Walter und ich bin Simulationspatient." Der kräftige Mann mit dem geschorenen Haar setzt sich vor die Gruppe. Er spricht nun richtiges Hochdeutsch. Denn jetzt kommt der wichtigste Teil seiner Tätigkeit: das Feedback. Als Simulationspatient kann Walter sich nicht nur besser als ein wirklich Kranker darauf konzentrieren, welche Gefühle und Reaktionen das Verhalten eines Arztes bei ihm auslöst. Er kann darüber auch eine nüchterne Rückmeldung geben. Das ist für Mediziner von größter Bedeutung. Die Regeln des Feedbacks trainieren die Simulationspatienten in Rollenspielen. Kritik am Studierenden erfolgt ausschließlich nach der Sandwichmethode: eine Beanstandung wird zwischen zwei positive Anmerkungen gepackt. "Für mich war es besonders angenehm, dass Sie über Eck zu mir gesessen haben", sagt er zu der Studentin. "Dann haben Sie mir das Büchlein rübergeschoben, aber nicht bis zur Tischkante. Dadurch habe ich mich nicht bedrängt gefühlt." Es sind Details, von denen alles abhängt. Blickkontakt, angemessene Körpersprache, Heraushören von vermeintlichen Nebensächlichkeiten. "In der Kommunikation entscheidet sich, ob ein Patient Vertrauen aufbaut", sagt Henrike Hölzer. Sie hat selbst als Simulationspatientin angefangen, ihre Lieblingsrolle war eine chronisch Depressive.

An der Charité betreut Hölzer zurzeit ungefähr 130 Simulationspatienten - "SPs", wie sie hier genannt werden. Insgesamt befinden sich an die 180 Rollen in ihrer Datenbank. Die Inhalte orientieren sich am Curriculum. Vor allem chronisch Kranke sind gefragt, Patienten mit Diabetes, Gicht oder Herz-Kreislauferkrankungen kommen zum Einsatz. Manche Rollen werden auch für Zwischenprüfungen angefragt. Einen großen Teil der Rollenprofile hat die promovierte Kulturwissenschaftlerin zusammen mit Fachärzten selbst entwickelt und immer weiter verfeinert. Fast allen liegen reale Fälle zugrunde. So auch den Analphabeten Simon Röller, auf den Henrike Hölzer besonders stolz ist. "Diese Rolle dürfte in Deutschland einzigartig sein." In Amerika, wo "standardisierte Patienten" ein regulärer Bestandteil des Zulassungsexamens für Ärzte darstellen, wird eine reproduzierbare Prüfungsrolle mit einem Wert von umgerechnet bis 80'000 Euro beziffert. So exakte Zahlen mag Hölzer für Deutschland nicht nennen. Nur, dass man ungefähr sechs Monate investieren müsse, bis ein SP in einer neuen Rolle für die Lehre wirklich einsatzfähig sei. Rund 12 Euro verdient er pro Stunde Einsatz oder Training.

In regelmäßigem Training werden die Rollen besprochen und von verschiedenen Darstellern immer wieder aufgefrischt. Die Charaktere sind dabei bis zu Vorgeschichte, Kleidungsstil und Gesichtsausdruck auf mehrseitigen Papieren festgeschrieben. Viele Details schwingen dabei nur mit, in Körperhaltung oder kleinen Nebenbemerkungen. Sie sind wichtig, um die fiktiven Patienten zum Leben zu erwecken. "Auch wenn die Rolle nur gespielt ist: Die Interaktion findet ja wirklich statt", sagt Hölzer. Albrecht Walter ist mit 58 nicht nur einer der Älteren im SP-Pool der Charité. Er ist auch einer der wenigen, die nicht als Schauspieler oder Theaterpädagogen ausgebildet sind. Aber wie fast alle Kolleginnen und Kollegen ist auch er per Zufall zu dieser Tätigkeit gekommen. Walter lernte Fleischer, dann schlug sein Lebensweg manche Haken. Aus dieser Zeit beherrscht er Denkweisen und Umgangsformen auch sehr bildungsferner Schichten. Im Rahmen einer Therapie spielte er in einer Improvisationstheatergruppe mit. Dann wies ihn seine Ärztin auf das Programm der Charité hin. Der grimmige Analphabet Simon Röller mit seinem Bluthochdruck und seinen Vermeidungsstrategien wurde rasch zu seiner Paraderolle. "Aber ich kann auch COPD (Chronisch obstruktive Lungenkrankheit), Niereninsuffizienz, Akutschmerz und Mundbodenkarzinom", sagt Walter. Für die Rolle als starker Raucher fing er an, sich jedes Mal Curry auf die Finger zu reiben, damit sie richtig gelb aussehen.

Die spezielle Schauspielkunst der Simulationspatienten hat inzwischen auch die Pharmabranche entdeckt. Die Freiburger Werbeagentur Bird & Schulte etwa veranstaltet im Auftrag von Unternehmen wie dem japanischen Konzern Daiichi Sankyo in ganz Deutschland Ärztefortbildungen, mit denen Medikamentenhersteller sich den Medizinern positiv präsentieren. Seit eineinhalb Jahren setzt Bird & Schulte dabei Simulationspatienten in sogenannten "Live Cases" ein. Als erste Agentur in Deutschland und mit großem Erfolg. "Die Ärzte sind davon wie gebannt", sagt Sabine Baur, die die Fortbildungen inhaltlich betreut.

Anders als im originalen Konzept werden bei den Live Cases nicht nur die Patienten, sondern auch die Ärzte von Simulationsdarstellern gespielt. Letztere sind allerdings meist echte Mediziner mit theatralischer Ader. Der gesamte Ablauf der Interaktion ist vorab festgelegt. Patientenfeedback gibt es nicht. Dafür unterbricht an mehreren Stellen ein Experte - intern "Key Opinion Leader" genannt - die Darstellung, um Hintergrundinformationen zu präsentieren. Sehr gut kann mit dieser Methode etwa demonstriert werden, wie sich die Therapietreue eines Patienten durch geschickte Gesprächsführung des Arztes erhöhen lässt. Die hohe Abbruchrate von Medikamententherapien stellt eines der größten Probleme des Gesundheitswesens dar und hängt häufig mit mangelnder Kommunikation zwischen Arzt und Patient zusammen. In der Schulung von Pharmareferenten wird das aktive und passive Gesprächstraining schon lange eingesetzt. "Bei der Fortbildung von Ärzten hat man sich an diese Methode bisher nicht rangetraut", sagt Sabine Baur. Ein Arzt-Patientengespräch ist hochkomplex. Es lässt sich mit Schauspielern nicht überzeugend demonstrieren. Der Funke in einem fingierten Arztgespräch springt erst mit spezialisierten Simulationspatienten über. Sie sind Profis im Erzeugen von Authentizität.

Ihre Darsteller rekrutiert die Werbeagentur aus der Simulationspatientenkartei der Charité. Für die Universitätsmedizin entsteht dadurch ein gewisser Interessenkonflikt. Die SPs wurden immerhin mit öffentlichen Geldern für die Lehre ausgebildet, nun werden sie an die Industrie ausgeliehen, um das Image einer Pharmamarke zu verbessern. Henrike Hölzer von der Charité will darüber nicht sprechen. Die Zusammenarbeit mit der Werbeagentur kam zufällig zustande: Der Freund eines Agenturmitarbeiters war Medizinstudent in Berlin und erzählte davon. Die Agentur trat an die Charité heran. Formal hatte die Vermittlung der Charité-SPs an Bird & Schulte nie etwas mit der Berliner Universitätsmedizin zu tun. Aber die ersten Rollenprofile für die Pharmaindustrie erarbeitete Sabine Baur mit Henrike Hölzer zusammen. Das ist inzwischen nicht mehr der Fall. Aber noch immer bewerben Bird & Schulte ihre Ärztefortbildungen mit dem Gütesiegel "In Zusammenarbeit mit der Charité".

Kleiner gedruckt erschien dann schon der Satz "Diese Einladung erfolgt nicht, um Sie in Ihrer Beschaffungsentscheidung zu beeinflussen", als Daiichi Sankyo diesen Frühling zu einer Ärztefortbildung einlud. Doch moderne Pharmakommunikation zielt ohnehin nicht mehr darauf, Ärzten plump ein Medikament zu verkaufen. Sie bemüht sich, eine Marke mit positiven Gefühlen aufzuladen. Die Live Cases dienen durchaus auch diesem Zweck, indem sich dort die Ergebnisse neuer Studien mit Informationen zu neuen Produkten mischen, auf eine Weise, die für das Publikum aufregend und kurzweilig ist.

Auch Albrecht Walter ist demnächst wieder für eine Ärztefortbildung zum Thema Bluthochdruck gebucht. Seit Wochen läuft bei den Veranstaltern die Anfrage der Journalistin, ob sie seinen Auftritt als überforderten Kioskbesitzer beobachten darf. Am Ende ist die Antwort abschlägig. Die Industrie schult die Ärzte diskret. "Wir bitten um Verständnis, dass an der Veranstaltung keine Begleitpersonen teilnehmen dürfen", heißt es auf der Einladung. Das gilt sogar für die Referenten. Mitarbeiter medizinischer Einrichtungen müssen eine Erlaubnis des Dienstherrn mitbringen. Henrike Hölzer von der Charité hat offiziell keine Kenntnis vom Nebenerwerb ihrer Schützlinge. Mit den meisten von ihnen hat sie seit Jahren zu tun und weiß, dass so ein Pharma-Schulungswochenende mit Erstattung der Reisespesen, Hotelübernachtung und schönem Honorar für viele eine beglückende Abwechslung in einem prekären Alltag ist. Und das Interesse der Industrie bedeutet auch Anerkennung der Arbeit, die sie seit Jahren in dieses Konzept steckt. Dass für die Beziehung zwischen Lehre und Wirtschaft in diesem Fall noch keine verbindliche Regelung existiert, ist nicht ihre Schuld. Denn noch existiert das Simulationspatientenwesen in einer Art totem Winkel. Das dürfte sich ändern, denn die Methode gewinnt ständig an Bedeutung. In einem bundesweiten Projekt wird gegenwärtig ein Kommunikationscurriculum erarbeitet, mit dem in spätestens drei Jahren alle Medizinstudenten in Deutschland in Gesprächsführung ausgebildet werden sollen, auch mit Hilfe von Simulationspatienten.

Die 120 Ärzte, die ihm beim nächsten Live Case zusehen, machen Albrecht Walter nicht nervös. Sowieso läuft es für ihn in letzter Zeit immer besser mit dem Spielen. Als Simulationspatient ist er längst ein kleiner Star. Und seit er sich vor kurzem bei einem Vermittlungsagentur für Kleindarsteller eintragen ließ, kamen schon zwei Aufträge für Sprechrollen im Nachmittagsfernsehen. Vielleicht sei jetzt der Moment gekommen, mit der Schauspielerei richtig loszulegen, sagt Walter. Als SP könne er etwas zur Verbesserung der Medizin beitragen. Darauf ist er stolz. "Aber vielleicht brauchen sie ja auch im Werbefernsehen mal einen kleinen, dicken Mann, der berlinert."

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Berlin
Wissenschaft
Reportage

 


Nr. 58, Zwischen den Beinen der Göttin –
Naomi Wolf

Rezension - Basler Zeitung, erschienen 6. Juni 2013

Die Schwierigkeit am neuen Buch der amerikanischen feministischen Aktivistin Naomi Wolf ist, dass darin sehr oft das Wort Vagina vorkommt. So lautet schon der Titel – «Eine Geschichte der Weiblichkeit» der Untertitel. Darin will sie diesen weiblichen Körperteil umfassend untersuchen. Und zwar nicht nur im konkreten, physiologischen Sinn. Sondern auch in seiner erotischen, kulturellen und spirituellen Bedeutung. Naomi Wolf, 1962 in San Francisco geboren und durch ihr Buch «Der Mythos Schönheit» international berühmt geworden, hat sich mehr als zwei Jahre lang mit der Frage «Hat die Vagina ein Bewusstsein?» beschäftigt. Sie steht am Anfang ihres neuen Werkes, das soeben auf Deutsch erschienen ist.

Ausgangspunkt für ihre Überlegungen ist ein eingeklemmter Beckennerv, der Wolf im Frühling 2009 quälte. Er führte dazu, dass nach dem Sex mit ihrem Partner der «übliche postkoitale Rausch der Vitalität, die sich in die Welt verströmte, die Freude an mir selbst und allem um mich herum und die kreative Energie in allem, was lebte», ausblieb. Ohne einen voll funktionsfähigen Unterleib habe sie den Orgasmus schaler und nur rein physisch erlebt, schreibt Wolf. Das führte zu einer Depression. Die Autorin hatte das Glück, einen Arzt zu finden, der den Nerv wieder heilen und ihr die Ekstase zurückgeben konnte. Das sei gewesen, als ob die Welt von schwarz-weiss wieder auf farbig umgestellt worden sei, schreibt Wolf. Ob es aber den vielen Frauen, die sexuell beschädigt oder frustriert sind, immer so geht wie ihr, als sie krank war? Das erschien ihr als geradezu apokalyptische Vorstellung, der sie mit dem Buch auf den Grund gehen wollte.

Wolf zeichnet nicht nur eine Art Ideengeschichte der Vagina, sie beschäftigt sich auch mit deren biologischen und vor allem neurologischen Funktionen. Fast alle Nervenbahnen, die zur sexuellen Erregung einer Frau nötig sind, stehen in direkter Wechselwirkung mit anderen Bereichen des Gehirns, hat Wolf herausgefunden. Dass die Vagina «glücklich ist», sieht sie nicht nur als Voraussetzung für sexuelle Erfüllung. Sondern auch für jede andere Art von seelischer und körperlicher Gesundheit, Zufriedenheit und Produktivität einer Frau.

Das alles sei, so Wolf, kaum bekannt. Unsere Gesellschaft sei geprägt von «gravierenden Missverständnissen in Bezug auf die Vagina». Im Gegensatz zum Penis wurde und wird die Vagina in vielen Epochen und Gesellschaften gefürchtet und verteufelt. Sie erscheint vielen Frauen als Ort von Schmutz und Verderben im Zentrum des eigenen Körpers. Diese kulturelle Quälerei stellt Wolf anhand vieler Belege aus Literatur und Wissenschaft dar. Diese abwertende Wahrnehmung hat Frauen ein oft gestörtes Verhältnis zum eigenen Körper und zu ihrem Platz in der Welt eingebracht. Als Beispiel führt Wolf Frauen an, die in Kriegen zu Abertausenden systematisch vergewaltigt und verstümmelt wurden.

Aber auch in unserer friedlichen Kultur steht vielerorts die Idee der Vergewaltigung, real, fantasiert oder als ständige, latente Drohung im Raum. Oft schon für Kinder. Bis heute haben selbstbewusste und tatkräftige Mädchen und Frauen Angst, wenn sie allein im Parkhaus sind oder nachts auf dem Weg vom Tram nach Hause laufen müssen. Diese Angst hängt unmittelbar damit zusammen, dass die Vagina als Ziel einer Vergewaltigung einen festen Platz in unserer kollektiven Vorstellung hat. Die Vorstellung, eine Frau zu vergewaltigen, ist nicht naturgegeben, sondern ein gesellschaftliches Konstrukt, das Machtverhältnisse subtil untermauert, wie Wolf ebenfalls darstellt. Es gibt viele kluge Überlegungen in diesem Buch. Um mehr über die Vagina, ihre Verbindung zum Hirn und ihre Heilung zu erfahren, führte Naomi Wolf zahlreiche Gespräche, besuchte esoterische Seminare und las Studien und Fachbücher. Leider vermengt sie Fakten und Persönliches aber zu einem allzu subjektiven, sehr amerikanischen Bekenntnisstil. So erscheinen die Gespräche mit Ärzten und Psychologen meist nur als beiläufige Partykonversationen, bei denen sich Wolf am Buffet beim Small Talk ein paar Thesen bestätigen lässt. In seitenlangen O-Tönen präsentiert sie hingegen mehrere Tantragurus, die ihre sexuell beeinträchtigten Kundinnen mit esoterischen Vaginalmassagen zu nie gehabten Höhepunkte verhelfen, nachdem sie sie vorher mit «willkommen, Göttin» begrüsst haben.

Naomi Wolf will das Bewusstsein für die Schönheit und Bedeutung der Vagina und ihre physiologischen Bedürfnisse wecken. Dabei stösst die Feministin auf mehrere Hindernisse. Zum einen ist das Schreiben über intime Erfahrungen des Körpers schwierig, weil uns gemeinsame Worte dafür fehlen. Zur Sprache kommt eine Vagina meist nur im Jargon eines bestimmten Umfelds – beim Gynäkologen, im Swingerclub oder im Tantrakurs. Fremde Intimitäten, die in persönlicher Sprache besprochen werden, führen zu Unbehagen. Das ist auch bei diesem Buch der Fall. Nicht die Überlegungen selbst sind irritierend. Es ist Wolfs allzu privater Ton, der von ihren eigenen Vorlieben geprägt ist.

Viel Platz widmet sie ihrem Konzept der «Göttinnenmatrix». Damit meint sie ein Zusammenspiel aus Wertschätzung, Verehrung und erotischen Ritualen, mit denen Männer der Vagina im Allgemeinen und der ihrer Liebespartnerinnen im Besonderen liebevoll Respekt zollen sollen. Das ist ein radikaler Gegenentwurf zur herrschenden Pornografisierung des weiblichen Geschlechts und ein wertvoller Denkanstoss. Aber für Leserinnen, die nicht Wolfs offensichtliche Vorliebe für orientalische Dekoration und eine hohe Anzahl von Kerzen im Schlaf- oder Badezimmer teilen, ästhetisch nicht zu bewältigen.

Schwerer wiegt aber das feministische Paradox, dem Wolf auf ihrer «Reise» begegnet. Die «Momente erhöhter sexueller Empfindsamkeit», bei der sich eine Frau «in einem Zustand der Vollkommenheit befindet», gelingen nämlich nicht ohne das Zutun eines Mannes und seines Penis. Die Ekstase ist in erster Linie biochemisches Ergebnis einer erhöhten Dopaminausschüttung. Sie entsteht bei einem «tiefen», vaginalen Orgasmus, und nur selten beim oberflächlicheren klitoralen Höhepunkt. Das widerspricht radikal dem alten feministischen Slogan, eine Frau ohne Mann sei wie ein Fisch ohne Fahrrad. Für den Sex, den Wolf meint, sind weder Hand noch Vibrator ein vollwertiger Ersatz. Das formuliert sie so politisch korrekt, als sei es ihr selbst peinlich. Auf keinen Fall will sie lesbische Leserinnen kränken oder diejenigen, die keinen Sexualpartner haben.

Kurz zusammengefasst lautet Wolfs These etwa so: Die Frau und ihre Vagina müssen in der Gesellschaft endlich mit dem nötigen Respekt behandelt werden. Das bedeutet neben allgemeiner Wertschätzung vor allem guten, langen Sex mit Männern, die sie zum vaginalen Orgasmus bringen können. Dann erst können Frauen ihr gesamtes Potenzial entfalten. Sie werden selbstbewusster, entspannter und liebevoller, und sehen sich zu intellektuellen und kreativen Höchstleistungen fähig. So sind sie kaum mehr zu unterdrücken. Die Vagina zu respektieren, ist für Wolf nicht nur eine spirituelle, sondern auch eine politische Aufgabe. Und zwar für Männer und Frauen. Das ist ein hoher, visionärer Anspruch. Leider tappt Wolf damit in eine Falle, die so gut wie jede westliche Frau der Gegenwart schon zum Straucheln gebracht hat: Die Überzeugung, dass alles immer und in jeder Hinsicht perfekt sein muss. «Das mystische Potenzial der weiblichen Sexualität erlaubt es der Frau, oft und auf einzigartige Weise ein leuchtendes, ‹göttliches› oder höheres Selbst zu erfahren», schreibt die Mutter zweier Kinder. Aber wie soll man das auch noch schaffen, neben Beruf, Familie und Fensterputzen? Durch ihr Ideal der kosmischen Glückseligkeit bei jedem Orgasmus vermittelt Wolf den Eindruck, dass man als Frau etwas Wesentliches verpasst, wenn man sich auch mal mit etwas weniger zufriedengibt. Erst recht, wenn man es nicht vermisst, dass der Partner nicht jedes Mal mit «tiefen Blicken», Rosenblättern und Fussmassagen hantiert, bevor es zur Sache geht, wie es Wolf als Bestandteil der «Göttinnenmatrix» empfiehlt.

Die Schwächen dieses Buches liegen auf der Hand. Es ist einfach, sich über den Göttinnenbombast in «Vagina» lustig zu machen. Und doch lohnt es sich, darüber hinwegzuklettern und den Überlegungen zu folgen, die Wolf auf etwas unbeholfene Weise auslegt. Dann stösst man auf die Frage, was das alles mit einem selbst und seinem Dasein als Frau zu tun hat. Das Nachdenken darüber, befreit von feministischem Kitsch, dürfte sich in jedem Fall lohnen.

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